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Eskalation unter der Wasserlinie – Warum die Ostsee zum gefährlichsten Brennpunkt Europas wird

Von Ike Aaren Hadler – für JCMI Europe

Die Ostsee war einst ein Binnenmeer der Zusammenarbeit. Heute ist sie ein See voller Misstrauen, Manöver und Unsicherheiten. Was sich dort zwischen Tankern, Kriegsschiffen und unterseeischen Datenkabeln abspielt, könnte sich in wenigen Monaten oder gar Wochen als das entscheidende Pulverfass Europas erweisen – und vielleicht der Ort, an dem eine direkte Konfrontation zwischen Russland und der NATO nicht mehr nur theoretisch bleibt.

Schattenflotte gegen Sanktionsmacht – das 17. EU-Paket trifft einen Nerv

Mit dem 17. Sanktionspaket hat die EU deutlich gemacht: Russlands wirtschaftliches Rückgrat – der Ölexport – soll konsequenter als bisher getroffen werden. Im Zentrum stehen 189 Schiffe, meist Tanker, viele davon mit unklarer Eigentümerstruktur, ausländischen Flaggen und abgeschalteten Transpondern. Sie bilden das Rückgrat der sogenannten Schattenflotte, die Moskau seit 2022 aufgebaut hat, um Sanktionen zu umgehen und Einnahmen aus dem Ölgeschäft zu sichern.

Die EU will diese Flotte nun auf dem Seeweg isolieren: durch Hafenverbote, Dienstleistungsblockaden – und, wenn nötig, direkte Inspektionen oder Maßnahmen auf See. Doch genau das ist der Moment, in dem das Spiel gefährlich wird.

Der Fall „Green Admire“ – ein Vorbote kommender Spannungen

Am 20. Mai wurde der griechische Öltanker Green Admire, unter liberianischer Flagge, in russischen Hoheitsgewässern bei Kaliningrad von russischen Behörden festgesetzt – trotz vorheriger Absprache über die Route mit Estland und Finnland. Die Besatzung hatte eine für alle Seiten bekannte Route gewählt, die aufgrund von Untiefen in estnischen Gewässern über russisches Gebiet führt. Russland verhängte eine Strafe – ohne ersichtlichen Grund.

Was als Routine hätte gelten sollen, wurde zur politischen Geste: Russland demonstrierte, dass es willkürlich handeln kann – selbst gegenüber Schiffen westlicher NATO-Partner.

Rechtslage und Reibung – die graue Zone zwischen Sicherheit und Eskalation

Völkerrechtlich ist die Situation angespannt: In internationalen Gewässern – selbst in der Ostsee – dürfen Schiffe grundsätzlich frei passieren. Auch in ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) besteht das Recht auf friedliche Durchfahrt. Doch was passiert, wenn ein Tanker gezielt den Anker über ein Unterseekabel senkt? Oder wiederholt Kursänderungen in Nähe kritischer Infrastruktur vornimmt? Oder russische Militärjets zur „Begleitung“ auftauchen?

Dann endet die Routine und beginnt die Eskalationsspirale.

Die Bundeswehr wie auch die NATO sehen diese Szenarien längst als reale Bedrohung. Sabotageakte an Pipelines (Nord Stream), Kommunikationskabeln und Offshore-Windparks haben in den letzten zwei Jahren mehrfach gezeigt, dass die russische Kriegsführung längst unter der Oberfläche agiert – wörtlich und strategisch.

Sanktionsmacht ohne Zähne?

Das 17. EU-Sanktionspaket kann nur Wirkung entfalten, wenn es auch durchgesetzt wird. Doch genau hier beginnt das Dilemma:

  • Wer setzt Sanktionen auf See durch, wenn russische Kampfjets auftauchen?
  • Wie reagiert man, wenn ein russischer Tanker nicht kooperiert – aber sich noch in internationalem Gewässer befindet?
  • Was, wenn Russland mit militärischer „Schutzeskorte“ reagiert – wie es in Syrien oder im Schwarzen Meer schon häufiger praktiziert wurde?

Europa ist rechtlich, diplomatisch und militärisch auf solche Konfrontationen nicht einheitlich vorbereitet. Jeder betroffene Staat muss einzeln abwägen, ob er das Risiko eines bewaffneten Zwischenfalls eingehen will. Und genau darauf baut der Kreml.

Kaliningrad – Russlands Faust in der Ostsee

Die russische Exklave Kaliningrad ist militärisch hochgerüstet, mit Küstenraketen, Flugabwehrsystemen und Marineeinheiten. Ihre Nähe zu den Transitwegen der Schattenflotte und zu den sensiblen Infrastrukturen der baltischen Staaten macht sie zu einer ständigen Drohkulisse. Sie ist der Schlüssel für Putins Fähigkeit, asymmetrisch zu drohen, ohne den NATO-Bündnisfall direkt auszulösen.

Fazit: Europa muss entscheiden, ob es bereit ist, seine Grenzen zu verteidigen – nicht nur auf Land, sondern auf See

Wenn die EU ihre eigenen Sanktionen nicht ernst nimmt, braucht sie sie nicht zu beschließen. Wenn Europa bereit ist, sie umzusetzen, muss es auch bereit sein, in letzter Konsequenz militärische Präsenz, Koordination und Entschlossenheit zu zeigen.

Denn die Ostsee ist kein Randgebiet. Sie ist ein Spiegel: für Europas Glaubwürdigkeit, für Putins Machtspiele – und für das fragile Gleichgewicht zwischen Druck und Eskalation.